Stellwerk "Lio"
Stellwerk und Bahnhof Lichterfelde-Ost
Teil 1
Topanker
Vorgeschichte1
Bild und Text: Lutz Röhrig
Es ist mehr als ein Ärgernis, wenn historische ehemalige Eisenbahnbauten im Zuge von Streckenmodernisierungen als „entbehrlich“ betrachtet und im Anschluss abgebrochen werden. Der Denkmalschutz tritt dabei oft zurück, zu zwingend scheinen die Argumente gegen ihn.
Und so verschwinden sie denn, all die vielen Kleinigkeiten entlang der Strecke, die das Reisen mit der Bahn einst so interessant machten: Stellwerke jeder Art und Größe, Wohnbauten für Lokpersonale und Stationsvorsteher, Lokschuppen... Die Liste der zum Aussterben verurteilten Gebäudetypologien wäre lang. Heute rasen wir auf weitgehend sterilen Beton-Schotterpisten an gigantischen Lärmschutzwänden vorbei, nur hier und da fällt der Blick auf letzte bauliche Zeugnisse der Eisenbahngeschichte.
Dass es mit etwas Kreativität und dem Willen aller auch anders geht, dass bewies, zumindest bis Ende 2017, das Stellwerk „Lio“ am Bahnhof Lichterfelde Ost. So war es mehr als naheliegend, dass ich mit Franzi nun endlich auch einmal in dieses inzwischen zu einem Restaurant umgebaute Paradebeispiel einer mustergültigen bahntechnischen Nachnutzung einkehrte. Schließlich verbindet sich hier beides: Mein Interesse an denkmalwerter Bausubstanz und unseren kulinarischen Ambitionen.
| Der Artikel wurde im August 2019 auch in gekürzter Form in der Fachzeitschrift "Berliner Verkehrsblätter" veröffentlicht.
| Das Stellwerk "Lio", welches auf seiner rechten Seite über eine hohe Glasfront Anschluss an die 2002 errichteten "Kranold - Arkaden" erhalten hat. Im Sockelgeschoss des Stellwerks befindet sich, wie bereits auch bauzeitlich, ein Ladengeschäft. Das benachbarte ehem. Toilettengebäude, das heute die Eingänge zum 2006 eröffneten Restaurant sowie ein weiteres Geschäft enthält, erhielt einen Dachaufbau mit straßenseitig verglasten Gasträumen. Darüber befindet sich eine Terrasse mit weiteren Sitzplätzen.
Dabei ist der Ort mit seinen vorbeirasenden Regional- und ICE – Zügen sehr speziell. Doch es lohnt sich. Der „Location“, aber vor allem auch des Essens wegen. Selten habe ich so leckeren Fisch gegessen. Und auch meine Partnerin war von ihrem Carpaccio begeistert… Die Nachricht von der Schließung des Restaurants hat uns daher sehr überrascht.
Was macht diesen Ort nun so besonders? Das Stellwerk allein? Nicht ganz. Es sind vor allem all die vielen Geschichten, die diesen Bahnhof und sein Umfeld zum Mittelpunkt haben. Schließlich fuhr von Lichterfelde Ost einst die erste elektrische Straßenbahn der Welt zur Kadettenanstalt.
Und auch für den heutigen S- Bahnbetrieb war der Bahnhof bedeutsam: den gesonderten Nahverkehrsgleisen sei Dank erfolgten von hier die Versuche zur Elektrifizierung des Vorortverkehrs. Doch werfen wir zunächst einen Blick ins Stellwerk, wie es sich bis Ende 2017 präsentierte...
| Ein Blick von der Terrasse des Restaurants "Stellwerk", wie er sich künftig wohl nicht mehr bieten wird.
| Der Eingang zum Stellwerk "Lio" befindet sich im ehem. Toilettengebäude der Bahnhofsanlage.
Restaurant2
Nachdem 2002 die sog. "Kranold-Arkaden", welche mit ihrer kleinteilig wirkenden Bebauung die Trasse der Anhalter Bahn zum Kranoldplatz abgrenzen, fertiggestellt wurden, begannen auch die Arbeiten am ehem. Stellwerksgebäude. Der Übergang zu den Kranold - Arkaden wird, optisch geschickt gelöst, durch die hohe Glasfront eines in diesem Zusammenhang neu entstandenen Nachbargebäudes hergestellt, in dem sich u. a. das heutzutage vorgeschriebene zweite Treppenhaus zum Stellwerksgebäude sowie ein Aufzug befinden, um auch Personen mit einem Handicap ein Besuch des Restaurants zu ermöglichen.
Einen weiteren Zugang zum Restaurant gibt es auf der anderen Seite des Stellwerks im ehem. Toilettengebäude, das komplett umgebaut wurde. Neben dem Einbau einer großzügigen Treppe wurden auf dem ehem. Flachdach umfangreiche, sich der geschwungenen Kontur des Gebäudes anpassende Gasträume errichtet, die zum Kranoldplatz hin vollständig verglast wurden und seitlich in das alte Stellwerk übergehen.
Die neu geschaffenen Gasträume erhielten zudem eine Dachterrasse, welche über das erhalten gebliebene Treppenhaus des ehem. Stellwerksgebäudes zu erreichen ist. Das 2., gleichfalls über die alte Treppenanlage erreichbare Obergeschoss des Stellwerksgebäudes enthielten damals u. a. eine des Abends geöffnete Cocktailbar. Auch ist von hieraus eine weitere, kleinere Terrasse zu erreichen, die sich auf einem schmalen Anbau an der Gleisseite befindet.
| Auf dem Flachdach des nun als Zugangsgebäude dienenden ehem. Toilettenhauses wurden zur Straßenseite vollständig verglaste Gasträume errichtet, die einen guten Ausblick auf den Kranoldplatz ermöglichen. Dieser wird an zwei Tagen der Woche - mittwochs und samstags - durch einen Wochenmarkt zusätzlich belebt. Rund um den Platz haben sich teilweise bereits seit Jahrzehnten bestehende Einzelhandelsgeschäften angesiedelt. Zudem entstand auf der Fläche des ehem. Güterbahnhofs das Einkaufszentrum "Lio".
| Die auf dem ehem. Toilettengebäude errichteten Gasträume erhielten im Dachbereich eine Terrasse mit weiteren Sitzplätzen. Von dieser geht der Blick auf das Stellwerksgebäude und einem kleinen Anbau, hinter dessen Durchgang sich eine weitere kleine Terrasse befindet. Im Stockwerk darüber befindet sich im Stellwerksgebäude die vorwiegend abends geöffnete Cocktailbar des Restaurants sowie eine auf dem Anbau errichtete dritte Terrasse.
Das Restaurant "Stellwerk" stellt eine gelungene Synthese aus vorhandener Bestandsarchitektur und neuzeitlichen Anbauten dar. Der eigenständige Charakter des 2009 wiedereröffneten Stellwerksgebäudes blieb dabei zumindest äußerlich erhalten. Man wünscht sich an dieser Stelle dringendst, dass das Projekt auch bei weiteren, für den eigentlichen Bahnbetrieb nicht mehr benötigten Bauwerken Nachahmung findet.
Und das Essen? Nun, auch diesem haben Franzi und ich unsere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Franzi war mit ihrem Carpaccio und den Süßkartoffel - Pommes Frites mehr als zufrieden - und auch ich habe selten so leckeren Fisch gegessen. Leider hat der seit 2016 amtierende neue Pächter Ende 2017 die Gaststätte aus technischen Gründen vorerst schließen müssen.
Schade, denn im "Stellwerk" verbanden sich gutes Essen mit einer attraktiven "Location", die noch eine echte Geschichte über das Eisenbahnwesen des ehemaligen "Groß - Lichterfelde" zu erzählen hatte. Daher sei im folgenden Kapitel ein Blick auf die Baugeschichte der Stellwerksanlage wie auch der Historie des Bahnhofs Lichterfelde Ost gestattet...
| Die kleine Terrasse im Zwickel zwischen dem Anbau und dem Aufgang zur Terrasse der Cocktailbar.
| Bahnliebhaber kommen hier voll auf ihre Kosten: Ein an der kleinen Terrasse vorbeifahrender Zug der RE 5.
| Blick von der Hauptterrasse auf die Anhalter Bahn und der von dieser durch eine Schallschutzwand getrennten S- Bahn in Richtung Lichterfelde Süd.
| Der gleiche Blick wie nebenstehend aus dem unterhalb der Terrasse liegenden Restaurantaufbaus des ehem. Toilettengebäudes.
| Der auf dem alten Toilettengebäude errichtete Gastraum. Links der Zugang zum Erdgeschoss der ehemaligen Toilettenanlage und zum Ausgang.
| Der zweite Zugang zum Restaurant "Stellwerk" erfolgte über den gläsernen Verbindungsbau zwischen den "Kranold-Arkaden" und dem Stellwerksgebäude.
Kolonie3
Kaufmann Johann Anton Wilhelm Carstenn war ein Mann mit untrüglichem Geschäftssinn. Um den Absatz seiner Grundstücke in der von ihm begründeten Villenkolonie „Lichterfelde Ost“ zu befördern, veranlasste er die "Berlin – Anhaltische – Eisenbahn - Gesellschaft", deren Strecke nach Halle durch seine Liegenschaften verlief, hier einen Haltepunkt mit dem Namen „Lichterfelde“ anzulegen.
Gern trug Carstenn für diesen am 20. September 1868 eröffneten Haltepunkt die Kosten, ging jedoch zumindest im Fall des ebenfalls von ihm finanzierten Bahnhofsgebäudes auf Nummer sicher: so hätte das eher schlichte Bauwerk jederzeit mit Blick auf die umliegenden Gehöfte in eine Scheune umgewandelt werden können.
Anscheinend ging sein Plan jedoch auf, der Betrieb nahm zu: 1876 musste angesichts des steigenden Fahrgastaufkommens ein eigener Vorortverkehr zwischen Berlin und dem Bahnhof „Lichterfelde“ eingeführt werden.
| Karte des damaligen "Groß - Lichterfeldes". Der Bahnhof "Lichterfelde Ost" befindet sich etwa in Kartenmitte. Eingezeichnet ist zudem die bereits zum Bahnhof "Lichterfelde West" verlängerte Straßenbahnlinie.
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Um seinen Liegenschaften, zu denen auch die benachbarte Kolonie Lichterfelde – West gehörte, einen weiteren Wachstumsschub zu geben, sorgte Carstenn durch kostenlose Überlassung des Baugrundstücks dafür, dass die vom preußischen Staat geplante Ausbildungsanstalt für junge Offiziere in Lichterfelde - West angesiedelt wurde.
Da die neue „Hauptkadettenanstalt“ jedoch in einiger Entfernung zum Bahnhof "Lichterfelde" lag, bot er Werner von Siemens an, seine geplante Elektrobahn auf einem Baugleis, welches von der neu errichteten Kadettenanstalt zum Bahnhof verlief, zu errichten. Die Kosten hierfür trug auch in diesem Fall Carstenn. 1881 eröffnete daher Werner von Siemens' erste elektrische Straßenbahn der Welt den Betrieb zwischen dem Vorplatz des Bahnhofs „Lichterfelde“ und der Kadettenanstalt, auf deren Gelände heute das „Bundesarchiv, Zweigstelle Berlin“ untergebracht ist.
1884 erfolgte die Umbenennung des Bahnhofs „Lichterfelde“ in „Groß-Lichterfelde“ (durch die Eingemeindung von Giesendorf usw.). Zwei Jahre später, mit dem Bau der Bahnstrecke Berlin – Magdeburg (Wannseebahn, S1) und der gleichfalls auf Carstenn zurückgehenden Errichtung des heutigen Bahnhofs „Lichterfelde-West“ wurde eine erneute Umbenennung notwendig. So unterschied man nun zwischen dem Bahnhof „Groß-Lichterfelde B. H. (Berlin-Halle)“ und „Groß-Lichterfelde B. M. (Berlin - Magdeburg)“. Da diese Unterscheidung offenbar nicht ausreichte wurden die Stationen 1899 in „Groß- Lichterfelde Ost“ bzw. „Groß-Lichterfelde West“ umbenannt.
| Die Streckenführung der ersten Straßenbahn der Welt zwischen dem Bahnhof "Lichterfelde (heute Lichterfelde Ost, auf dem Plan rechts oben) und der ehem. Kadettenanstalt (heute Bundesarchiv, auf dem Plan links).
| Wagen der ersten Straßenbahn der Welt in Lichterfelde. Die Fahrzeuge wurden später auf Lyra-Stromabnehmer umgerüstet. Zeichnung um 1890
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Dem rasant anwachsenden Bahnverkehr konnten die zweigleisige Strecke der Anhalter Bahn im Laufe der Zeit kaum mehr gerecht werden. Sie wurde daher 1901 um ein weiteres Gleispaar für den Vorortverkehr erweitert. Gleichzeitig erhielt der Bahnhof „Groß - Lichterfelde Ost“ in diesem Zusammenhang ein neues Empfangsgebäude und einen weiteren, dem Vorortverkehr dienenden Bahnsteig.
Diese völlige Trennung zwischen dem Fern- und dem Vorortverkehr ließ die Anhalter Bahn auch für Versuchsfahrten interessant erscheinen. So begann ab 1903 auf den Vorortgleisen der Anhalter Bahn der elektrische Versuchs- und Probetrieb zwischen „Groß- Lichterfelde Ost“ und dem Potsdamer Ringbahnhof, der bis zur generellen Einführung des elektrischen S- Bahnbetriebs andauern sollte.
Doch der starke Bahnbetrieb auf der Anhalter Bahn hat auch seine Schattenseiten. Noch immer verlaufen die Gleise im Planum und behindern somit in ganz erheblichen Maße den bereits starken Straßenverkehr. Ein Umbau dieser Anlagen, von dem auch der Bahnhof „Groß – Lichterfelde Ost“ betroffen sein sollte, ist dringend geboten.
| Das um 1901 errichtete zweite Bahnhofsgebäude (das erste war ja jenes von Carstenn notfalls als Stall zu verwendende). Das Gebäude stand, wie bereits oben beschrieben, nicht am heutigen Kranoldplatz, sondern auf der anderen Seite der Bahngleise, am Jungfernstieg. Dementsprechend begann auch die erste Straßenbahn der Welt ihre Fahrt vom Bahnhofsvorplatz am Jungfernstieg aus...