Seit 120 Jahren in Kreuzberg
Die Ludwig Wilde Buchhandlung
Seit 120 Jahren in Kreuzberg
Vorwort1
1 | Vorwort. Eine Entdeckungsreise
Bild und Text: Lutz Röhrig
Als Kind und Jugendlicher streifte ich vom Planufer kommend, viel in meiner einstigen Kreuzberger Heimat umher. Irgendwann entdeckte ich ihn: diesen kleinen Buchladen in der Fichtestraße. Eigentlich war die Fichtestraße nicht so ganz mein Revier – ganz im Gegensatz zur parallel verlaufenden Körtestraße. Aber am Anfang dieser kleinen Straße gab es etwas, dass es in der Körtestraße erst viele Jahre später geben sollte – einen Buchladen.
Und dieser Buchladen hatte gleich bei meiner ersten Begegnung etwas im Schaufenster zu stehen, für das ich mein gespartes Taschengeld geradezu opfern "musste". Name und Titel sind mir bis heute in Erinnerung geblieben und auch das Buch selbst ist noch in meinem Besitz: „Alfred B. Gottwald, Eisenbahn - Brennpunkt Berlin“. Wie ich damals berechtigt annahm, würde ich in dem Buch viele Fotos und auch so manche Erklärungen über das Aussehen und die Geschichte jener Berliner Fernbahnhöfe finden, die ich entweder nur als Ruinen oder vom Hörensagen kannte - wie etwa dem Görlitzer- oder den Anhalter Bahnhof, die beide in Kreuzberg lagen.
| Die Ludwig Wilde Buchhandlung im Jahre 1920. Vor der Tür des Ladens in der Fichtestraße 33 steht stolz Herr Wilde höchstselbst. Am Schaufenster ist der Schriftzug "Ludwig Wilde, vormals Julius Lehmann" erkennbar. Heute befindet sich hier eine Kneipe. Postkarte aus der Sammlung "Kreuzberger Stadtteilgeschichte auf Postkarten, Nr. 10: Rund um den Urbanhafen" von Dieter Kramer
| Die erste Erwähnung der damals auch Schreibwaren anbietenden Buchhandlung des Julius Lehmann im Jahre 1900.
Doch der Preis – so ohne weiteres war das für einen Schüler damals nicht zu stemmen. Aber eine Tante ließ sich erweichen und auch Großmutter gab wohl etwas dazu. So ging ich dann glücklich wieder zu jenem kleinen Geschäft, erklärte was ich wollte und legte das Geld auf den Tisch. Der Buchhändler ging ins Lager, um nach dem Buch zu suchen. Und ich blickte mich währenddessen um. Die beinahe magisch anmutenden uralten Möbel, mit denen der Buchladen ausgestattet war, all die vielen Bücher… eine verheißungsvoller Ort für eine Leseratte wie mich.
Da jenes ersehnte Buch damals neu erschien, kann zumindest ein Jahresdatum genannt werden: Erstauflage 1976, noch mit blauem Schutzumschlag. Die Buchhandlung war mit ihrem Bestand eine Seltenheit, da ernstzunehmende Berlin – Fachliteratur in jener Zeit kaum zu bekommen war. Wenn überhaupt, dann wurden meist Touristenführer angeboten - oder Werke für Architekten. Doch Letztere waren damals für mich preislich unerreichbar.
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2 | Bücher über Berlin - 1976 kein Thema
Erst ein gutes Jahrzehnt später, anlässlich der 750 Jahrfeier Berlins - sollte sich endlich auch die Einstellung der Verlage gegenüber fachspezifischen Berlinthemen ändern. Vorher hieß es nur lakonisch: Wer interessiert sich denn schon dafür – für Begrifflichkeiten wie Lenné, Salvisberg, Taut oder Bauhaus… und diese verfallenden alten Kisten in den Straßen mit ihrem unmodischen Stuck - das Kind soll lieber einen Roman lesen.
Das tat ich zwar auch, aber weder Karl May noch Robert Louis Stevenson konnte mir erklären, was es etwa mit der alten imposanten Ruine neben dem Kaufhaus Bilka an der Kottbusser Brücke so Aufsicht hatte. Und dann diese Geschichten unserer Großmutter über die alte Synagoge am Fraenkelufer, deren längst in den Bombennächten des Krieges untergegangener Hauptbau einst die gesamte Gegend dominiert haben soll – eine Abbildung hiervon sollte ich erst viele Jahre später in der Literatur ("Synagogen in Berlin") anlässlich einer Ausstellung im damaligen Berlin - Museum in der Lindenstraße finden…
| Der heutige Inhaber, Herr Harald Kirchner, während unseres Gesprächs über das "alte" Kreuzberg der 1970er und 1980er Jahre.
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| Blick in den Laden. Wer angesichts der riesigen Auswahl und der guten Beratung nichts findet... Bemerkenswert auch die alte, noch vom Zigarrenladen stammende Einrichtung, die Erinnerungen an das Ladengeschäft in der Fichtestraße aufkommen lässt.
3 | Zur Geschichte der Buchhandlung
1995 dann sollte ich schlagartig wieder an den Buchkauf meiner Kindheit erinnert werden. Durch die Medien ging die Nachricht, dass der seit langen bestehenden Buchhandlung „Ludwig Wilde“ durch den Eigentümer des Hauses Fichtestraße 33 der Mietvertrag gekündigt worden war. Die Zukunft der traditionsreichen Buch- und Papierwarenhandlung, die Ludwig Wilde 1909 von Julius Lehmann übernommen hatte (Lehmann hatte sie hier im Jahre 1900 eröffnet), sei nun ungewiss.
Doch Karl – Heinz Kirchner, welcher den Buchladen von der betagten Schwiegertochter Ludwig Wildes übernommen hatte, fand einen Ausweg. In der parallel verlaufenden Körtestraße 24 stand zu diesen Zeitpunkt gerade ein altes Zigarrengeschäft leer, das mit seiner alten Ladeneinrichtung ein ähnliches Flair vermittelte, wie das bisherige Geschäft. Dessen Inneneinrichtung musste auf Anordnung des Eigentümers entsorgt werden und wanderte ins Feuer. Heute befindet sich in den Räumlichkeiten ein Lokal.
In der gegenüber der Fichtestraße erheblich belebteren Körtestraße (hier befindet sich u. a. der Gewerbehof Körtestraße 10 und ehemals auch das Broken English) indes fand die Buchhandlung schnell ein neues Klientel, wozu auch die Schüler der nahen Carl – von – Ossietzky – Gesamtoberschule gehören. Die alte Inneneinrichtung des ehemaligen Zigarrengeschäftes lässt heute den Charme des einstigen Ladens in der Fichtestraße erahnen. Sogar die alten Gasröhren in den Tresen sind noch vorhanden – wenn auch aus Sicherheitsgründen stillgelegt – an denen sich die Käufer der Tabakwaren einst ihre Zigarren anstecken konnten.
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4 | Die Ludwig Wilde Buchhandlung heute
Seit dem Ende seiner Ausbildung in einer medizinischen Buchhandlung im Jahre 2001 arbeitete Sohn Harald Kirschner mit im elterlichen Betrieb. Jedem Elternteil - wie auch dem Sohn - war ein bestimmtes Ressort zugewiesen. Kinderbücher waren das Feld der Mutter, der Vater war zuständig für historische Romane und der Sohn übernahm die neuere Literatur. Die Eltern haben sich inzwischen längst zur Ruhe gesetzt. Nun sind der Sohn und dessen Frau im Laden alleine tätig. Ob es wohl, wie einst, in der Buchhandlung auch etwas anspruchsvollere Literatur als die eher touristisch intendierten Stadtführer über meine ehem. Heimat Kreuzberg gibt? Kein Problem! Sofort legte man mir einige Bücher vor.
Mit Harald Kirchner entspann sich ein längeres Gespräch über das Kreuzberg der 70er und 80er Jahre – und der damals erhältlichen Berlin - Literatur. Klar, Dieter Kramers legendäre Postkartensammlung wird hier immer noch angeboten – wenn auch einzelne Teile inzwischen nicht mehr erhältlich sind. Und all die seltsamen Ruinen, eigenartigen Gebäude und Vorkommnisse - Kirchner kennt auch dies. Man merkt, man steht vor jemandem, welcher mit Kreuzberg seit langem eng verbunden ist.
| Dem glücklichen Bücherleser schlägt keine Stunde - auch wenn in der alten Einrichtung seit jeher ein kunstvoll umrankter Zeitmesser eingebaut ist...
| Außenansicht des Ladens in der Körtestraße 24.
Und auch auf vieles andere hat Kirchner gleichfalls eine Antwort parat. Eine junge Dame betritt den Laden – ich hätte gern Macbeth. In welcher Version? Darf es Klingonisch sein? Oder die englische Originalversion von Shakespeare? Oder doch in deutscher Übersetzung?
Die Dame entschied sich für die Originalversion von Shakespeare. Kirchner holte das gewünschte Buch aus einem Nebenraum. Erstaunlich, was hier alles an literarischen Schätzen gelagert ist.
Ich hoffe, bei meinen Besuchen meiner ehem. Kreuzberger Heimat noch lange ab und an auf einen Besuch in dieser Buchhandlung vorbeigehen zu können. Die Ludwig Wilde Buchhandlung - ein Stück meiner Erinnerung, das Sie nun gleichfalls kennen...