Potsdamer Straße 75
Die Joseph-Roth-Diele
Potsdamer Straße 75
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1 | Radetzkymarsch. Ein Österreicher in Berlin
Text und Fotografien: Lutz Röhrig
„Die Trottas waren ein junges Geschlecht. Ihr Ahnherr hatte nach der Schlacht bei Solferino den Adel bekommen. Er war Slowene. Sipolje- der Name des Dorfes, aus dem er stammte – wurde sein Adelsprädikat. Zu einer besonderen Tat hatte ihn das Schicksal ausersehen…“
Verwundert wird sich mancher ob dieser literarischen Einleitung die Augen reiben – erst recht, wenn er erfährt, dass diese Zeilen einem der wohl bedeutendsten österreichischen Romane der Zeit zwischen den Weltkriegen entnommen sind.
Doch was hat jenes Werk mit dem Titel „Radetzkymarsch“ ausgerechnet mit einer nahe der Potsdamer Brücke gelegenen „Gast- und Lesestube“, wie sie die Betreiber nennen, zu tun? Begeben wir uns auf eine literarische Spurensuche.
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| Die Joseph - Roth - Diele. Literatur und gutes Essen.
2 | Die Gründung der Joseph-Roth-Diele
...„Man stand auf einmal in der mittäglichen Wärme der silbernen, verdeckten, gewitterlichen Sonne. Da erschien zwischen dem Leutnant und dem Rücken der Soldaten der Kaiser mit zwei Offizieren des Generalstabs. Er wollte gerade einen Feldstecher, den ihm einer der Begleiter reichte, an die Augen führen. Trotta wußte, was das bedeutete: Selbst wenn man annahm, daß der Feind auf dem Rückzug begriffen war, so stand seine Nachhut gewiß gegen die Österreicher gewendet, und wer einen Feldstecher erhob, gab zu erkennen, daß er ein Ziel sei, würdig, getroffen zu werden. Und es war der junge Kaiser. Trotta fühlte sein Herz im Halse...“
Gleich beim Betreten des Lokals wird deutlich, man hat es hier nicht mit einer jener verrucht- verrauchten Eckkneipen Alt-Berliner Zuschnitts zu tun, wie ich sie noch in Kreuzberg kennenlernen durfte, in denen man aus seiner in den oberen Stockwerken gelegenen Wohnung noch in Filzpantoffeln und Morgenmantel nach unten zum Frühschoppen ging.
Nein, diese Art von Lokalität ist die Joseph-Roth-Diele zum Glück gewiss nicht. Denn die ob ihrer hölzernen Innendekoration gediegen und wie aus der Kaiserzeit stammend wirkende Literatur-Gaststätte hat einen besonderen Charme, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Begründet wurde dieser außergewöhnliche Ort im Jahre 2002 von Caroline Mentz, Ulrike Schuster und Dieter Funk - just an jener Stelle, an der sich einst jene Konditorei befand, in der Joseph Roth seinen Roman "Das Spinnennetz" begann.
| Was sich hinter der Tür verbirgt, kann sich sehen lassen...
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| Blick auf die Theke - und auf die bisherige, inzwischen durch einen anderen Leuchtkörper ersetzte Deckenlampe.
3 | Der Schriftsteller Joseph Roth
...„Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper. Seine Knie zitterten. Und der ewige Groll des subalternen Frontoffiziers gegen die Herren des Generalstabs, die keine Ahnung von der bitteren Praxis hatten, diktierte dem Leutnant jene Handlung, die seinen Namen unauslöschlich in die Geschichte seines Regiments einprägte...“
Dank des ab 1920 im Nachbarhaus Potsdamer Straße 115 a (heute Nr. 73) zeitweilig hier zusammen mit seiner Frau Friedericke lebenden Schriftstellers Joseph Roth und der Vorliebe der Inhaber für dessen Literatur war ein Name für die neue Gaststätte schnell gefunden. Roth arbeitete in Berlin für die „Neue Berliner Zeitung“, ab 1921 für den Berliner Börsen- Courier.
In Berlin verfasste Joseph Roth auch Teile seines wohl berühmtesten Werkes, dem Roman „Radetzkymarsch“, welcher anhand des Schicksals einer Familie den Niedergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie symbolhaft beschreibt.
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4 | Eine Gaststätte mit Kultur
...„Ich bin ein Dummkopf, mein lieber Freund! sagte der Doktor. Ich hätte mich von Eva längst trennen müssen. Ich habe keine Kraft, diesem blöden Duell zu entrinnen. Ich werde aus Blödheit ein Held sein, nach Ehrenkodex und Dienstreglement. Ein Held! wiederholte er und stapfte hin und zurück vor dem Tor des Gasthofes....“
Aufmerksam waren die ehemalige Lateinlehrerin Ulrike Schuster und der Filmregisseur Dieter Funk auf die Beziehung des Hauses zu Joseph Roth durch ihren 1996 im gleichen Gebäude begründeten Devotionalienladen "Ave Maria" geworden, der schnell bis hin nach Japan populär wurde und bis heute, allerdings in der benachbarten Lützowstraße, existiert.
Der Handel mit sakralem Zubehör lief eher verhalten und so kam man hier zu dem Entschluss, den als Lager für das "Ave Maria" dienende Ladenraum in eine auf Joseph Roth bezugnehmende Gaststätte zu verwandeln. Ohne Vermögen, dafür mit viel Tatkraft schufen das Inhaberpaar des "Ave Maria", zu dem noch die Hamburgerin Caroline Mentz hinzukam, aus Bauabfällen und Lampen des abgerissenen alten Müggelturms, einen wirklich einmaliges Restaurant.
| Gern auch käuflich zu erwerben: Bücher von und über Joseph Roth, dem wohl bedeutendsten österreichischen Schriftsteller...
| ...die man überall in der gemütlichen Gaststätte findet.
Und so findet man heute neben Fotos und Zitate des schon zu Lebzeiten überaus erfolgreichen österreichischen Schriftstellers auch dessen Literatur an den umliegenden Wänden der Gaststätte, die hier ausliegt und zum Schmökern einlädt.
Und wer sich – vielleicht bei einer der Lesungen – für Joseph Roth vollends begeistern lässt, kann dessen Literatur hier auch jederzeit für sich selbst oder als Geschenk erwerben.
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5 | Joseph Roth und Rindsrouladen
...„Durch das junge, trostbereite Hirn des Leutnants schoß blitzschnell eine kindische Hoffnung; sie werden nicht aufeinander schießen und sich versöhnen! Alles wird gut sein! Man wird sie zu anderen Regimentern transferieren! Mich auch! Töricht, lächerlich, unmöglich! dachte er gleich darauf...“
Und das Essen? Hausmannskost ist angesagt. Die Speisekarte ist übersichtlich – doch das, was sie bietet, hat eine hohe Qualität. Die Rindsrouladen, die ich bei meinen Besuch mir angedeihen ließ, waren, der Ausdruck sei mir verziehen – superlecker.
Meine charmante Begleitung probierte die Spätzle – diese waren erstklassig, was kein Wunder ist. Denn schließlich entstammte einer der Inhaber dem Schwabenländle.
| Hier kann das Auge während des Essens spazieren gehen angesichts der vielen Details.
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| Blick auf den Tresen, den Zitaten von Joseph Roth in den Deckenkehlen - und eine inzwischen ausgetauschte Lampe.
6 | Eine Empfehlung
...„Jetzt standen sie im Zimmer, der Oberleutnant Christ und der Hauptmann Wangert vom Infanterieregiment der Garnison. Sie blieben in der Nähe der Tür, der Leutnant einen halben Schritt hinter dem Hauptmann. Der Regimentsarzt warf einen Blick zum Himmel. Als ein ferner Widerhall aus ferner Kindheit zitterte die erloschene Stimme des Großvaters: Höre Israel, sprach die Stimme, der Herr, unser Gott, ist der einzige Gott! Ich bin fertig, meine Herren! sagte der Regimentsarzt...“
Die Joseph-Roth-Diele ist eine bemerkenswerte Gaststätte, in der insbesondere um die Mittagszeit, bei den Lesungen oder bei den von einem Klavier begleiteten Literatur- Abenden kein Platz mehr zu bekommen ist. Meine Empfehlung: Unbedingt einmal besuchen!
| Lauschige Ecken und ein Klavier für Auftritte und Lesungen. Man kann sich wohlfühlen...
| ...dazu gehören auch die Plätze am Hoffenster.