Die Geschichte eines Gewerbehofes
Gewerbehof Körtestraße Nr. 10
Teil 1
Topanker
Vorwort1
1 | Vorwort. Brotfabrik und Autoreparatur
Text: Lutz Röhrig Bild: Heike Jordan-Misselwitz und Lutz Röhrig
Auch in der Kreuzberger Körtestraße gibt es aus historischer Sicht einige Entdeckungen zu machen. So zum Beispiel im Gewerbehof Körtestraße 10, den ich bereits seit meiner Jugend kenne. Ursache hierfür war unsere betont sparsam haushaltende Mutter, die regelmäßig die dortige Brotfabrik mit ihrer besonders preiswerten Backwaren ansteuerte. Auffallend waren dabei für mich jedes mal auch die schon damals nicht mehr modernen Automobile der Marke Lloyd, die im Hof und im Umfeld anzutreffen waren.
30 Jahre später. Längst gibt es die alte Brotfabrik oder die Autoreparaturwerkstatt nicht mehr. Durch Zufall wurde ich in einem Internetforum zur Stadtgeschichte mit einer Dame bekannt, die den Gewerbehof Körtestraße ebenfalls nur allzu gut kannte - ihr Vater besaß dort einst eine Autowerkstatt... Meine Freude war umso größer, als sie mir dann auch noch einige Fotos zeigen konnte, die ich hier gern veröffentliche. Auch deswegen gibt es zeit-fuer-berlin, der Seite, die sich noch Zeit für das Leben und der Geschichte der Stadt nimmt.
| Neben Brotfabrik und Autoreparatur gab es offensichtlich noch andere Gewerbe in dem Gebäudekomplex - wie die etwa die "Kartoffelhandlung Otto Bechert", deren Inschrift sich bis heute an einem Kellerabgang im zweiten Hof erhalten hat.
| Kartoffelhandlungen, Autoreparaturwerkstätten oder Brotfabriken findet man nicht mehr in dem alten Gewerbehof. Heute haben sich hier Firmen aus dem sog. Kreativsektor angesiedelt - meist mit Schwerpunkt Politik und politiknahe Vereine.
Doch es gibt noch einen weiteren spannenden Aspekt. Von der Tochter des Inhabers der ehemaligen Autowerkstatt Jordan, Frau Jordan - Misselwitz, erfuhr ich, das es mit den alten Maschinen der Werkstatt noch eine besondere Bewandtnis hat.
Mit der Schließung der seit 1918 bestehenden, zunächst die Marken Adler und Olympia und später dann Lloyd vertretenden Reparaturwerkstatt standen auch der inzwischen aus historischer Sicht wertvolle Maschinenpark zur Disposition. Angesichts der Tatsache, das es sich hierbei um Erzeugnisse der Werkstatt des Ingenieurs und Flugpioniers Otto Lilienthal handelte war schnell klar, das die Gerätschaften einem Museum übereignet werden sollten. Mehr über die Werkstatt in Kapitel drei und im zweiten Teil.
Umfeld2
2 | Lage und Umfeld des Gewerbehofes
Das Gebäude Körtestraße 10 befindet sich im von der Urbanstraße aus gesehen ersten Abschnitt der Körtestraße, direkt gegenüber einer großen Freifläche, auf der sich einst vier Gasometer der Städtischen Gasanstalt erhoben. Lediglich einer der Gasometer überdauerte den Krieg, da er als Bunker mit verstärkten Wänden und Zwischendecken ausgebaut worden war.
Die durch den Abbruch der übrigen Gasometer entstandene Freifläche wird heute von einem Sportverein sowie einem unmittelbar an der Körtestraße befindlichen, dem Gewerbehof Nr. 10 gegenüberliegenden Kindergarten genutzt.
| Schematische Darstellung des Gebäudeumfelds. Unten rechts der ehem. Fichtebunker, in der Mitte, dem Gewerbehof direkt gegenüber, der Kindergarten.
| Vorderhaus des Gewerbehofs Körtestraße 10. Auch Läden gibt es hier wieder. Rechts das "Broken English", links die Eisdiele.
Blick auf das Vordergebäude des Gewerbehofs Körtestraße 10 mit Eisdiele und dem bekannten Ladengeschäft "Broken English". Das Gebäude verlor im Zweiten Weltkrieg seine oberen Geschosse. Auf dem verbliebenen zweistöckigen Torso errichtete Mitte der 1960er Jahre der damalige Eigentümer K. Buchholz (er war der Sohn des vorhergehenden Eigentümers P. Buchholz. Aufgewachsen im elterlichen Haus am Charlottenburger Königsweg 33, lebte er bereits vor Kriegsausbruch im Haus Körtestraße 10, wo er im Auftrag des Vaters als Verwalter tätig war) eine weitere, nur durch Ihn und seine Familie genutzte Etage. Dabei kam diesen zugute, das auf der benachbarten Kriegslücke ein niedriges zweistöckiges Gebäude (Körtestraße 12 auf dem Bild links) errichtet wurde, so das er das aufgesetzte Obergeschoss seines Hauses mit einer schräg gegen die Körtestraße gestellten Terrasse versehen konnte.
Die Fassade des Hauses wurde während dieser Zeit entdekoriert. Man gewinnt den Eindruck, das das Gebäude nicht nur aus Kostengründen seinen Stuck verlor, sondern, dem Geschmack der Zeit folgend, dem im Stil der 1960er Jahre gehaltenen neuen Umfeld angepasst werden sollte. Die trapezförmige Gestaltung der Terrasse mit Spalier, die schräg angeschnittene Wand zu dem an das Rückgebäude anschließenden Wohnungsteil lassen diesen Eindruck entstehen.
| Das Wohnhaus Körtestraße 12 - Nachbargebäude des Gewerbehofs - ist mit seinem angeschrägten Balkonen im typischen Stil der 1950er Jahre errichtet worden. Für Kreuzberger Verhältnisse jedoch in seiner niedrigen Bauweise inmitten einer Straßenzeile höher aufragender Gründerzeitbauten jedoch eher ungewöhnlich.
| Das Wohnhaus Körtestraße 12 und das erheblich höhere viergeschossige Eckgebäude Körte- und Freiligrathstraße.
| Der unmittelbar dem Gewerbehof gegenüberliegende Kindergarten Körtestraße 9. Seine 1960er - Jahre Architektur scheint stilistisch mit dem ebenfalls in den 1960er Jahren errichteten Gebäude Körtestraße 12 auf der gegenüberliegenden Straßenseite trotz seiner andersartigen Zweckbestimmung und Ausführung zu korrespondieren. Verändert sind lediglich die modernen Fenster und Türen. Und auch das Fallrohr der Dachentwässerung wurde, wie ein Vergleich mit dem nebenstehenden Foto zeigt, an die vordere Fassade verlegt.
| Blick Ende der 1960er Jahre aus dem Fenster des Vorderhauses Körtestraße 10 auf den gegenüberliegenden Kindergarten. Im Hintergrund der während des Zweiten Weltkriegs zur Bunkeranlage ausgebaute ehem. Gasometer Fichtestraße. Auch bemerkenswert: der DKW 3=6 am Straßenrand. Foto mit freundlicher Erlaubnis von Frau Jordan - Misselwitz
| Eckgebäude Freiligrathstraße / Körtestraße. An der Ecke an Stelle des "Schultheiss - Eck" eine Eisdiele, daneben nach wie vor ein Bäckereigeschäft.
| Das Eckgebäude 1963. Direkt an der Ecke das "Schultheiss - Eck". Daneben die Bäckerei. Foto mit freundlicher Genehmigung Andreas Janke.
| Eckgebäude Freiligrathstraße / Körtestraße. Blick in die Freiligrathstraße. In dieser Aufnahme wird die geringe Tiefe des Eckhauses besonders deutlich - und die merkwürdige Lückenschließung durch den Flachbau der 1960er Jahre.
| Damals zeigte sich die Schultheiss - Brauerei durchaus noch gern - auch in der regulären Versorgung ihrer Kneipen - mit Pferdegespannen. Den Werbeeffekt nutzte man gern. Der Begriff "Bierkutscher" ist auch heute noch geläufig. Foto mit freundlicher Genehmigung Andreas Janke.
Geschichte3
| Adressbuchausschnitt von 1919. Die Werkstatt ist zu diesem Zeitpunkt in der Urbanstraße 25 angesiedelt.
3 | Die Geschichte der Werkstatt Helmut Jordan
Die später im Gewerbehof Körtestraße 10 ansässige Autoreparaturwerkstatt war 1918 zusammen von Heinrich Pirz und Gustav Oidermann als "Ferrum-Modellbearbeitungs-und Apparatebau GmbH" zunächst in der Urbanstraße 25 begründet worden.
1931 erfolgte die Verlegung, nun als "Ferrum GmbH, Spezial-Reparaturwerkstatt für Opel-Adler-Wagen" unter dem alleinigen Inhaber Heinrich Pirz in die damalige "Camphauser Straße Nr. 5". 1933 wurde der Straßenzug in "Körtestraße" umbenannt nach dem im nahen Urbankrankenhaus tätigen Chirurgen Friedrich Emil Werner Körte.
Die Straßenumbenennung erfolgte im Zusammenhang mit der Auszeichnung Körtes mit dem "Adlerschild des Deutschen Reiches" (die höchste, 1922 von Friedrich Ebert gestiftete Auszeichnung der Weimarer Republik, die jedoch auch noch während der NS-Diktatur verliehen wurde) durch den damaligen Reichspräsidenten von Hindenburg.
| Arbeitsunterlagen des Helmut Jordan der Reparaturwerkstatt "Ferrum" in der Körtestraße 10. Die seit 1918 bestehende, zuletzt von Heinrich Pirz geführte Werkstatt war auf die Instandsetzung von Fahrzeugen der Marken Opel und Adler spezialisiert. Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz
| Die im 1. Quergebäude des Hauses Körtestraße 10 befindliche Autowerkstatt "Ferrum" im Jahr 1932. Rechts der Inhaber Heinrich Pirz (im Anzug) und seine Angestellten, zu denen auch Lehrling Helmut Jordan (vorne in der Mitte, mit Locken) gehörte. Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz.
| Helmut Jordan, Inhaber der Autowerkstatt. Ein Freundlicher Herr, der jedoch auch anders sein konnte: Manchmal haben seiner Tochter, Frau Jordan - Misselwitz, die Auszubildenden leid getan, wenn ihr Vater einmal etwas zu streng war und laut über den Hof schimpfte. Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz
Helmut Jordan begann am 11. April 1932 in der Reparaturwerkstatt "Ferrum" in der Körtestraße 10 seine Lehre. 1936 verließ Helmut Jordan als fertig ausgebildeter Automechaniker die "Ferrum" Werkstatt in der Körtestraße, um nun bei der Lufthansa auf dem Flughafen Tempelhof anzufangen.
Nach dem Krieg kehrte er wieder in seinen Beruf als KFZ-Mechaniker zurück. Zunächst arbeitete er als Geselle in einer im Hof des Gebäudes der weithin bekannten Kreuzberger Künstlerkneipe "Die Weltlaterne" in der Kohlfuhrter Straße untergebrachten Autoreparaturwerkstatt.
Nach dem Abschluss seiner Meisterprüfung übernahm er in den 1960er Jahren dann von seinem ehemaligen Chef Heinrich Pirz die "Ferrum" - Werkstatt in der Körtestraße 10, die sich mittlerweile auf Fahrzeuge der Marke Lloyd spezialisiert hatte. Das Bild zeigt Helmut Jordan in den 1960er Jahren im Hof vor seiner Werkstatt. Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz.
| Frau Jordan-Misselwitz zum zweiten Foto der Werkstatt im ersten Innenhof: Links im Hof war früher eine Klempner, später unser Büro, rechts vorne Garagen (eine Garagentür steht gerade offen), oben waren Tischlereien und hinten im zweiten Hof die Brotfabrik [Gustav Liebing KG, der Verf.] des "Zerpenschleuser Landbrots". Alles in allem sehr laut und sehr staubig, die Tischlereien haben viel Holzstaub erzeugt." Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz
| Frau Jordan-Misselwitz zum Foto der Werkstatt im ersten Innenhof: Die Arbeit an einem Fahrzeug wird Anfang der 1960er Jahre kritisch beäugt durch meine Eltern, also den Werkstattchef Herrn Helmut Jordan und dessen Frau. Auf dem Foto wartet mit offener Motorhaube ein Lloyd Alexander auf seine weitere Reparatur. Die Marke Lloyd gehörte zum Bremer Borgward-Konzern, dessen Konkurs 1963 zu einem der größten Nachkriegsskandale geriet. Foto mit freundlicher Genehmigung Frau Jordan-Misselwitz.