Der Gang über die Grenze
Wie war das damals als West-Berliner?
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Bild und Text: Lutz Röhrig
Ein Blick in die Runde meiner Arbeitskolleginnen und -Kollegen führt es deutlich vor Augen: Nur die wenigsten haben die Zeit der Teilung noch bewusst miterlebt. Die „Mauer“ und auch deren Fall kennen Sie oft nur noch vom Hörensagen, so, wie andere die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs vielleicht von Ihren Großeltern einst vernommen haben.
Doch wie war das Ganze damals so, als jene Berlin einst teilende Grenze keine eventbehaftete Kunstlandschaft, sondern bittere Realität war? Was musste unternommen werden, um seine auf der anderen Seite der Grenze lebende Verwandtschaft zu besuchen?
Denn damals hatte fast jeder West-Berliner Angehörige "drüben" im „Osten“. Nur allzu oft verlief die Mauer nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch quer durch die Familien, die alles daran setzten, die Bindung untereinander nicht abreißen zu lassen. Auch an diesen starken Bindungen, die selbst nach 40 Jahren Mauer- und Grenzregime nicht verloren gingen, ist letztlich die DDR gescheitert...
| Die Mauer um Berlin (West) und die Grenzübergänge. Es war von Seiten der DDR genau geregelt, wer welchen Grenzübergang für welchen Zweck benutzen durfte. Karte: Wikipedia.
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| Das Gebäude des Besucherbüros Waterlooufer 2014
Eine "Reise" nach Ost-Berlin und in die DDR musste wohl überlegt und geplant sein. Noch heute, während ich diese Zeilen schreibe, erscheint die Vorstellung an das, was alles getan werden musste, um, oft nur für ein paar Stunden, mit den auf der anderen Seite der Mauer lebenden Familienangehörigen zusammenzukommen, beinahe unwirklich und surreal.
Zu den vor „Reiseantritt“ zu treffenden Maßnahmen gehörte das Aufsuchen eines jener von der DDR im Westteil Berlins betriebenen „Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten“, von denen sich das damals für mich nächstgelegene am Kreuzberger Waterloo-Ufer 5-7 befand.
Insgesamt gab es fünf dieser Büros in der Stadt:
in der Jebensstraße 1 in Charlottenburg (am Bahnhof Zoo),
in der Steglitzer Schloßstraße 1 (im Forum Steglitz),
in der Weddinger Schulstraße 118,
am Spandauer Reformationsplatz 5
sowie am Kreuzberger Waterloo-Ufer.
Das Besucherbüro am Kreuzberger Waterloo - Ufer ist dabei - neben dem ehem. Weddinger Büro auf dem Leopoldplatz - eines von lediglich zweien, die nicht in Mietsräumen, sondern in einem eigens errichteten Gebäude untergebracht waren.
Die Baracke blieb bis heute erhalten und beherbergt derzeit einen ausländischen Kulturverein. Leider ist das Gebäude am Waterlooufer, trotz seiner historischen Bedeutung, zunehmend der Verwahrlosung ausgesetzt. Ein Erhalt wäre angesichts der zunehmend schwindenden baulichen Sachzeugen an die Zeit der Teilung mehr als wünschenswert.
| Das Gebäude des Besucherbüros Waterlooufer 2017. Längst verschwunden ist das große Vordach mit der markanten Adressanschrift. Das zunehmend verfallende ehem. Besucherbüro beherbergt derzeit einen ausländischen Kulturverein.
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| Die Vorderseite meines Mehrfach- Berechtigungsscheines, wie in jeder West- Berliner beantragen konnte. Übrigens: einen Herrn "Franzke" hat es bei der "DVP" (Deutsche Volkspolizei) nie gegeben...
Denn als Voraussetzung für den Besuch Ost- Berlins oder des Umlands war zunächst ein Visum (bei mehrtägigen Aufenthalt in der DDR) oder ein offiziell als „Berechtigungsschein zum mehrmaligen Empfang eines Visums" bezeichnetes, sonst nur kurz "Mehrfachberechtigungsschein“ genanntes "Reisedokument" zu beantragen.
Letzteres war eine Berliner Besonderheit die es ermöglichte, ohne große Formalitäten die DDR und Ost- Berlin für einen Tag zu bereisen. Bis zu acht weitere Fahrten waren mithilfe dieses Scheins ohne Neubeantragung möglich – ein Fortschritt gegenüber der sonst geübten Praxis, jeweils für jede einzelne Reise ein eigenes Visum viele Wochen im Voraus beantragen zu müssen. Nur wenn die Reise einmal länger als einen Tag dauern sollte, war die Beantragung eines Visum auch weiterhin unumgänglich.
Das Besucherbüro am Waterloo- Ufer war eine einfache Baracke, deren wichtigster Raum durch einen langen Abfertigungstresen in zwei Teile geteilt war. Vier in einheitlich dunkelbraune Anzüge gewandte DDR– Angestellte versahen hier ihren Dienst. 3 Personen saßen direkt am Tresen und bearbeiteten die Angelegenheiten der vor ihnen sitzenden Besucher. Der Vierte in der rechten hinteren Ecke des Raumes jedoch beobachtete von seinem Stuhl permanent seine Kollegen und deren Arbeit... Es herrschte eine beklemmende Stimmung, wie sie mir sonst von westlichen Ämtern unbekannt war. Nur zurückhaltend und mit gedämpfter Stimme wurde das Nötigste zwischen uns und den DDR - Mitarbeitern gesprochen. Abends bestiegen die Angestellten einen hinter dem Besucherbüro geparkten, bald stadtbekannten, grauen Barkas- Kleinbus aus DDR - Fertigung, mit denen sie dann wieder in die andere Hälfte der Stadt fuhren.
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Einige Tage nach dem Besuch des Büros am Waterloo- Ufer konnte man sich dann seine „Reisedokumente“, zu denen u. a. auch eine "Zollerklärung“ gehörte, abholen. Für die von mir geplanten Tagesbesuche war der "Mehrfachberechtigungsschein" das Mittel der Wahl. Das erste, bereits direkt bei der Antragstellung anzugebende Reiseziel war fest auf der Vorderseite des Scheins aufgedruckt, für weitere Ziele standen auf der Rückseite acht Felder für manuelle Eintragung zur Verfügung.
Mit dem Mehrfachberechtigungsschein war es möglich, das zuvor in einem der Felder eingetragene Fahrtziel in einem der Besucherbüros abstempeln zu lassen und im Prinzip sofort zur Grenze zu gehen, um seine Reise anzutreten. Da dieses Abstempeln allerdings auch wiederum mit Schlange stehen usw. verbunden war, erledigte ich dies meist am Vortag der geplanten Fahrt. Die Aufenthaltsdauer war auf den angegebenen Tag begrenzt. Um 2 Uhr des Folgetages musste man die Grenze spätestens (über den selben Grenzübergang) wieder passiert haben. "Westdeutschen" Bundesbürgern jedoch war eine Tagesreise in die DDR von Anfang an möglich. Für sie reichte der einfache Reisepass. Die DDR unterschied hier genau, stellte das Territorium West - Berlins für sie doch keinen Teil der BRD da, sondern ein spezielles politisches Gebilde.
Mit dem Mehrfachberechtigungsschein ausgestattet, konnte die Reise in den "Osten" angetreten werden. Nach dem Einkauf der obligatorischen Mitbringsel für die Ost - Verwandtschaft – in der Regel Kaffee und Südfrüchte - ging es dann zum Übergang. Doch auch bei der Wahl des Grenzübergangs mussten zuvor genaue Überlegungen angestellt werden. Denn nicht jeder Übergang, der vielleicht günstig zum Reiseziel gelegen hätte, war auch tatsächlich geeignet. Einige Übergänge waren nur "Westdeutschen" ("Bürgern der BRD", so die DDR- Bezeichnung, denn "Westberlin" gehörte nach DDR Lesart nicht zur "BRD", sondern bildete ein eigenständiges politisches Gebiet) oder "Bürgern anderer Staaten" vorbehalten (z. B. Heinrich–Heine–Straße), andere nur Fußgängern (z. B. Oberbaumbrücke) und wieder andere nur Diplomaten oder alliierten Militärangehörigen (Checkpoint Charlie).
| Die Rückseite meines Mehrfachberechtigungsscheines. Hier konnten weitere Tagesreisen eingetragen werden. Bis zu acht waren möglich. Wie man sieht, ist es zu diesen Reisen nicht mehr gekommen...
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| Westliche Abfertigungsanlagen des Grenzübergangs Staaken (Spandau). Während der Artikel meinen Gang über die Grenze im Bahnhof Friedrichstraße schildert, dokumentieren die Bilder meinen Gang über den Grenzübergang Staaken, wo auf westlicher Seite des Torwegs (Staaken, wo der Westen der Osten war...) eine Tante lebte. Blick auf die westlichen Zollanlagen. Dahinter begann die DDR und deren Abfertigungseinrichtungen.
Am häufigsten wurde der Übergang Friedrichstraße von mir frequentiert, da dieser zentral gelegen und gut im östlichen wie westlichen Verkehrsnetz eingebunden war. Zudem hegte man die Hoffnung, dass auf Grund des dortigen Andrangs die Zahl der lästigen Gepäckkontrollen sich auf gelegentliche Stichproben beschränken würden. Man stieg also am Reisetag in die U – Bahn, die man in einen anderen Staat wieder verlassen würde...
Nach dem Bahnhof Kochstraße - dem letzten in West–Berlin, wie eine Bahnhofsansage jeden unmissverständlich informierte - durchfuhr man die nächsten, bereits unter Ost-Berlin gelegenen Stationen ohne Halt. Es waren die sog. „Geisterbahnhöfe“, abgedunkelte, nur mit schummeriger Beleuchtung versehene und schwer bewachte Stationen, in denen weder ein Ein- noch Ausstieg möglich war.
Diese Fahrten unter Ostberlin hindurch waren auch für jeden auswärtigen Berlin-Touristen ein „Erlebnis der besonderen Art“, für uns jedoch - allerdings eher ambivalenter - Alltag. Ab und an konnte man auf den dunklen Bahnsteigen schemenhaft uniformierte Personen erblicken, deren Zweckbestimmung angesichts der gleichfalls wahrzunehmenden Bewaffnung klar zu erkennen war. Meist blieben die „Grenzer“ jedoch hinter hohen Mauern mit Sehschlitzen verborgen, da auch jenem Personenkreis ein Betreten der Bahnsteige nicht so ohne Weiteres gestattet war. Denn man misstraute keineswegs nur den eigenen "zivilen" Bürgern….
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Nach minutenlanger Fahrt durch abgedunkelte Bahnhöfe und hermetisch verschlossene Tunnelanlagen erblickte man dann plötzlich wieder grelles Licht – der Bahnhof Friedrichstraße war erreicht. Es war dies der einzige Bahnhof in Ost-Berlin, an denen die Züge der West - BVG halten durften. Von hier konnte man ohne Kontrolle zur „West-S- Bahn“ umsteigen oder eben zur Grenzabfertigung gehen. Denn der Bahnsteig der U6 war durch einen langen Gang mit der gleichfalls hier haltenden, nur Westberlinern zugänglichen Nord-Süd-S-Bahn (heutige Linien S1, S2 und S25) verbunden, von deren Bahnsteig man wiederum ohne Kontrolle über eine lange Treppe zur westlichen Stadtbahn (ausschließlich nur in Richtung Lehrter Stadtbahnhof- heute Hauptbahnhof) oder den hier einsetzenden Interzonenzügen für Fernreisen gelangte.
Diese lange Treppe zur Stadtbahn mussten auch „Reisende in die DDR“ benutzen, allerdings nur bis auf halber Höhe. Hier befand sich eine eher unscheinbare, mit gelben Glas versehene Doppeltür, durch die man zur Grenzabfertigung zu gehen hatte. Nach dem Durchschreiten jener zwei Welten trennenden Tür gelangte man in einen längeren Gang, an dessen Ende sich eine Reihe von Abfertigungsschaltern befanden.
Nun hieß es, den richtigen Schalter zu wählen - die Möglichkeit des Fehlgehens war für unerfahrene, womöglich der deutschen Sprache nicht ganz mächtige Reisende durchaus gegeben. Nicht jeder vermochte zwischen „Bürger der BRD“, „Bürger Westberlins“, „Bürgern der DDR“ oder „Bürgern übriger Staaten“ zweifelsfrei zu unterscheiden.
| Blick auf die westlichen Abfertigungsanlagen des Grenzübergangs Staaken (Spandau). Ganz rechts verläuft der zur Fahrbahn hin durch eine Zaun abgegrenzte Fußgängerweg zur Grenzabfertigungsstelle. Im Hintergrund die westlichen Abfertigungseinrichtungen. Bild mit freundlicher Erlaubnis von Ralf Lehmann-Tag.
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| Nach dem langen Anmarsch von der letzten westlichen Bushaltestelle (nur ein Einsetzer der BVG fuhr direkt bis an die eigentliche Grenzübergangsstelle heran) durchschritt man als Fußgänger dann dieses Tor in der Mauer, hinter dem ein längerer, vollständig abgesicherter Gehweg lag. Erst dann erreichte man die Kontrollbaracken.
Die Abstände der Kontrollschalter waren für die Breite einer Person ausgelegt. Auch Ehepaare mit Kindern mussten so einzeln hintereinander durch die Sperren hindurchtreten. Die Schalter bestanden im Grunde aus rechteckigen Verschlägen, aus denen heraus nun energisch nach den „Reisedokumenten“ gefragt wurde. Folgsam schob man seinen Ausweis, bei West-Berlinern noch der grüne „behelfsmäßige“ ("Westdeutsche" hatten einen grauen) und seine sonstigen Dokumente durch einen schmalen Schlitz dieser von vielen Spiegeln und Kameras umgebenen Baulichkeit.
Aus dem Innern der Abfertigungsschalter drangen nun ein seltsames Klicken und unverkennbare Stempelgeräusche sowie mitunter das Kratzen eines Kugelschreibers zu dem Wartenden, unterbrochen lediglich von Aufforderungen wie: „Die Brille bitte mal abnehmen!“ oder „das linke Ohr freimachen!“. Nach bangen Minuten schob eine Hand die Papiere durch den Schlitz wieder zurück. Man ging nun weiter zur nächsten Station, die im Grunde nur aus einem langen Tresen bestand. „Bitte die Zolldokumente“ tönte es meist mit unverkennbaren sächsischem Akzent schon von weitem. Sorgsam wurden die Papiere durch grün-grau Uniformierte nun erneut überprüft. Im Anschluss hatte man seine Taschen auf den Tresen zu stellen, welche dann einer umfangreichen Visitation unterzogen wurden. Entdeckte der Zöllner in den Taschen oder schon bereits auf der Zollerklärung etwas nicht alltägliches, wie etwa eine Anhängerkupplung für den Skoda meines Onkels, so kamen einem auch schon mal ein paar – je nach Temperament und Laune des DDR-Grenzers – anzügliche oder humoristische Fragestellungen zu Gehör.
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Durfte man zum Abschluss der Prozedere alles wieder einpacken, dann hatte man es geschafft. Mit einem Ausdruck spürbarer Erleichterung verließ man den festungsartig ausgebauten Teil des Bahnhofs Friedrichstraße über den Ausgang Georgenstraße, nicht ohne vorher an einem Kassenschalter der DDR – Bank seine obligatorischen 25 DM Zwangsumtausch bezahlt zu haben, den die DDR von jedem Reisenden für jeden Tag des Aufenthalts einforderte.
Mehrtägige Aufenthalte, insbesondere von größeren Familien mit Kindern, konnten also schnell sehr teuer werden. Auf diese Weise versuchte die DDR den Andrang an Westbürgern, der ihr im Prinzip zuwider war, drastisch zu senken. Denn an einem ungehinderten Gedankenaustausch ihrer Bevölkerung mit den ins Land einreisenden Westlern, noch dazu auf der nur schwer zu kontrollierenden Ebene familiärer Kontakte, hatte sie keinerlei Interesse – an den Divisen hingegen schon. So wurden aus den ursprünglich 5 DM schnell 18 und zuletzt nun 25 DM.
Wollte man seine Reise nun weiter mit der DDR - S- Bahn fortsetzen, so begab man sich erneut in das Bahnhofsgebäude, diesmal jedoch durch die Eingänge unterhalb der Eisenbahnbrücke an der Friedrichstraße, über die man in den für DDR–Bürger vorbehaltenen Hallenteil zur Stadtbahn (ausschließlich nur Fahrtrichtung Osten) gelangte (die Stadtbahngleise Richtung Zoologischer Garten waren für die DDR- Bevölkerung nicht zugänglich und durch eine schwere Stahlwand vom Rest der Halle abgetrennt). Denn der Weg zur Verwandtschaft war noch weit und so musste nun die Ost- S- Bahn genutzt werden, bis man in Schöneweide dann den Fernzug nach Rathenow erreichte. Fuhr man um fünf Uhr morgens von Kreuzberg aus los, so kam man etwa gegen Mittag in der lediglich 70 km entfernten Havelstadt an– wenn nichts dazwischen kam. Reisezeiten, wie sie heute kaum noch vorstellbar sind…
| Dort, wo sich einst jenes Tor in der Mauer befand, befindet sich heute ein Lebensmittelmarkt. Mehrere Gedenkstelen weisen auf die Bedeutung des Ortes hin, der mental heute kaum noch erfasst werden kann...
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| Auf der anderen Seite der Heerstraße gegenüber den Gedenkstelen befindet sich eines der letzten originären Relikte des ehemaligen Grenzüberganges Staaken.
Eine beinahe vergessene „Versuchung“ hatte der Bahnhof Friedrichstraße im Übrigen auch noch zu bieten: Auf den Bahnsteigen der vom Westen aus ohne Kontrolle leicht erreichbaren Bahnhofsbereiche der BVG - U-Bahn und der westlichen S-Bahn befanden sich die DDR - Intershops. In diesen Kiosken bot die DDR den West-Berlinern viele unversteuerte Westwaren – vor allem Alkohol und Zigaretten –zu einem stark vergünstigten Preis an. So kam die DDR in den Genuss zusätzlicher Deviseneinnahmen, denn bezahlt werden musste auf dem vollständig im Ostsektor gelegenen Bahnhof natürlich mit harter D–Mark. Daher war der Einkauf hier eigentlich moralisch verpönt, wer wollte schon die DDR auf diese Weise unterstützen. Aber da bekanntlich "das Fressen vor der Moral" kommt, zeugten die langen Warteschlangen von einer eher durchaus flexiblen Haltung vieler westlicher Zeitgenossen...
Doch der Einkauf im Intershop war nicht nur gesellschaftlich geächtet: So konnte es passieren, dass beim Ausstieg aus der S- oder U – Bahn auf westlicher Seite plötzlich einem einige Damen und Herren in ziviler Montur entgegensprangen, die nicht, wie heute, den hoffentlich vorhandenen Fahrschein zu sehen wünschten, sondern den mitgeführten Reisetaschen Ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit widmeten.
Denn natürlich waren die Waren im Intershop vor allem deshalb so preiswert, weil hier nicht der Bundesdeutsche Steuersatz zur Anwendung gelangt war. Manch ein Kettenraucher oder dem Alkohol in besonderer Weise zugewandter Zeitgenosse erlebte nun in den Nebenräumen des U-Bahnhofs Hallesches Tor (im Rondell, wo sich heute ein Kiosk befindet) einige bittere und vor allem teure Stunden…
Über die Abenteuer, die man während der 1 ½ Stunden andauernden Bahnfahrt von Schöneweide nach Rathenow als Westler so erleben konnte, soll an dieser Stelle nichts weiter gesagt werden. Nur so viel, dass man durch Mitreisende Ostler viel zu hören bekam... Am Ende fragte man sich, wer den eigentlich überhaupt noch auf der „Linie“ der DDR war. Bald, schon sehr bald, sollte es auf diese Frage an einem kühlen Novembertag einige Antworten geben…
Und die Rückreise? Nun, auch hier spielte der Bahnhof Friedrichstraße wieder eine große Rolle. Denn es war genauestens vorgeschrieben, dass man über den gleichen Grenzübergang wie bei der „Einreise“ auch wieder „auszureisen“ hatte.
Während man auf der Hinreise den Bahnhofskomplex über die Georgenstraße verlassen hatte, erfolgte die Rückkehr in den Westen über den als „Tränenpalast“ bekannten, noch heute erhaltenen gläsernen Anbau. Dieser lenkte die Ströme der Ausreisenden rasch in die Tiefe und damit in das undurchdringliche Labyrinth aus Kontrollschaltern und streng voneinander abgeschirmten S- und U-Bahnlinien zurück.
| Eine Perspektive, die sich vielen bei der Ein- und Ausreise in die DDR bot: Die Türen der Passkontrolle. Während die vordere Tür offen stand, war die hintere nur nach Freigabe der elektrischen Verriegelung durch den DDR - Grenzer zu passieren.
| Die "Reisedokumente" waren dem Grenzer unter dem Schlitz der Glasscheibe zur Kontrolle durchzustecken. Anweisungen wie "machen sie bitte das Ohr frei" oder nehmen sie die Brille ab!" war unbedingt Folge zu leisten. Dann das erlösende Summen und man durfte die Tür nach draußen passieren.
Der Ablauf der Kontrollen war beinahe identisch wie bei der „Einreise“, jedoch wurde man nach als Geschenk erhaltenen oder selbst gekauften „Konsumwaren der DDR“ gefragt. Hatte man hier das ein- oder andere Mitbringsel, so wurde dessen Wert geschätzt. Entsprach dieser in etwa dem Betrag des Zwangsumtauschs, so gab es in der Regel keine Beanstandungen.
Auch die Mitnahme von „Mark der DDR“ in den Westen war unerwünscht. Sollten hier und da noch ein paar Münzen übersehen worden sein, so hatte man diese in eine bereitstehende Spendendose des „Roten Kreuzes der DDR“ einzuwerfen.
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Doch was machte man aber mit den zwangsweise erworbenen 25 DDR– Mark, deren „Ausfuhr“ nicht möglich war und angesichts des bekannt knappen Warenangebots östlicher Geschäfte? Man ging mit seiner Ost- Verwandtschaft meist in eine Gaststätte. Für 25 DDR - Mark konnte sich hier durchaus eine größere Anzahl von Personen vollständig beköstigen lassen. Ansonsten kamen noch übliche Reiseandenken, Postkarten oder andere Kleinigkeiten in Frage. Literatur eher weniger. Denn wer wollte sich schon seine eigene Geschichte im Sinne der DDR neu erklären lassen. Werke mit „Rotlicht- Bestrahlung“ (DDR – Spott) ließ man lieber im Laden. Allgemeine Sachbücher, zum Beispiel für den Biologieunterricht, waren hingegen durchaus zu empfehlen.
Und wie war das Gefühl, wenn man alle Kontrollen bei der „Ausreise“ passiert hatte und wohlbehalten in der westlichen U - oder S- Bahn saß? Man war unheimlich erleichtert. Denn so gern wie man seine Verwandtschaft, die ja selbst nicht vor Eintritt ins Rentenalter in den Westteil der Stadt „reisen“ durfte, auch besucht hatte, das Ganze „Drumherum“ belastete einen doch sehr. Wie sind die Gedanken über jene Zeit heute? Die Besuche waren für mich zwar eine eher ambivalente, in der Rückschau jedoch auch historisch interessante Erfahrung.
Raum für romantische Verklärungen gibt es jedoch indes nicht. Denn in nachdenklichen Momenten hörte man insbesondere von seiner jüngeren Ost - Verwandtschaft durchaus das freimütige Bekenntnis, das man gern - nur auf Besuch für ein paar Tage - den Westen mit eigenen Augen sehen wolle. Nur kurz über den Kudamm gehen, durchs KaDeWe. Jetzt, wo man noch jung ist, ein einziges Mal. Aber dieser Wunsch, dass wusste man, war eine Utopie. Noch für viele Jahre…
| Die Sperranlagen nahe dem zu Ost-Berlin gehörenden Güterbahnhof Neukölln - Treptow. Die brücke mit den Lampen links diente der Kontrolle der von und nach West-Berlin fahrenden Güterzüge.